Das Problem mit der Bibel – Gottes Wort und Menschenwort

Ich habe zuhause eine ganze Sammlung von Bibeln. Einige haben sich im Laufe meines eigenen Lebens angesammelt: meine Konfirmandenbibel aus dem Jahr 1975, die Bibel, die ich während meines Studiums benutzt habe, mit dem Luthertext von 1984, die Millenniumsbibel aus dem Jahr 2000. Außerdem habe ich verschiedene Übersetzungen, die Pfarrer, Theologen und Arbeitskreise angefertigt haben, von der Züricher Übersetzung bis hin zur „Bibel in gerechter Sprache“, vom Genfer Neuen Testament bis zur „Volxbibel“. Viele Bibeln habe ich auch geschenkt bekommen – vor allem alte Bibeln aus der Zeit vor 1912. Meine älteste Bibel stammt aus dem Jahr 1724; sie ist also jetzt 300 Jahre alt, und ich habe schon ein Gefühl der Ehrfurcht vor der langen Geschichte, der vielen Zeit, die dieses Buch hinter sich hat.

Wussten Sie, dass es allein seit dem Jahr 2000 mehr als zwanzig neue Übersetzungen und Übertragungen der Bibel in die Deutsche Sprache gibt? Insgesamt sind beinah hundert verschiedene Bibelübersetzungen auf Deutsch erschienen, dazu gibt es noch eine Menge kleinere Ausgaben, die nur den Text des Neuen Testaments enthalten. Fast jeder von Ihnen wird eine Bibel irgendwo im Bücherregal stehen haben – aber wann haben sie zuletzt hinein gesehen?

Ich bin ziemlich sicher, dass die Bibel das Buch ist, das am meisten gekauft und am wenigsten gelesen wird. Vielleicht liegt es an dem „sperrigen“ Inhalt, dem großen zeitlichen und kulturellen Abstand zu der Gesellschaft, in der die Bibeltexte vor Jahrtausenden entstanden sind, vielleicht aber auch nur an der der Sprache, die uns im Lauf der Zeit fremd geworden ist. Mit den oft verschachtelten Sätzen, die Paulus geschrieben hat, mit den Metaphern des Propheten Jesaja und den skurrilen Bildern aus der Offenbarung des Johannes haben viele moderne Menschen Schwierigkeiten. Am ehesten kommen wir noch mit den Psalmen zurecht, die wie Gebete sind und sich oft erstaunlich zeitgemäß zeigen, und natürlich kennen wir die berühmten Stellen, die zu unserem kulturellen Allgemeingut gehören, auch bei Menschen, die nicht oft in die Kirche gehen: die Schöpfungsgeschichte, die zehn Gebote, das Vater unser, die Seligpreisungen und die Weihnachtsgeschichte.

In der Bibel heißt es: „Alle Schrift, die von Gott eingegeben ist, ist nütze zur Lehre, zur Zurechtweisung, zur Besserung, zur Erziehung in der Gerechtigkeit.“ Für uns Christen ist die Bibel ein sehr wichtiges Buch, weil sich unser Glaube immer wieder darauf bezieht. Von Jesus und von dem, was er getan und gepredigt hat, wissen wir nur durch die Bibel. Wie wir an Gott glauben, muss sich an dem messen lassen, was viele Generationen vor uns geglaubt haben und was in der biblischen Tradition begründet ist. Kirchliche Lehre, gottesdienstliche Praxis, Beichte und Buße, sogar das gesellschaftliche Zusammenleben in christlich gesinnten Staatswesen, all das wird von der Bibel geprägt.

Woher kommt aber die Autorität der Bibel? Warum ist dieses Buch so wichtig für die Christenheit? Manche Menschen haben geglaubt, dass die Bibel von Gott selbst „eingegeben“ ist, wie es im zweiten Brief an Timotheus heißt, und sie verstehen dieses „eingegeben“ in einem wörtlichen Sinn: Gott hat dem Moses, dem Lukas, dem Johannes sozusagen „diktiert“, was uns wie er schreiben soll. Sie nehmen die Bibel in dem Sinne „wörtlich“, dass sie jedes einzelne Wort als „Wort Gottes“ ansehen. Andere Menschen sehen die Autorität der Bibel vor allem darin begründet, dass sie über Jahrtausende die Grundlage des jüdischen und des christlichen Glaubens war, dass diese Texte die Wurzel unserer Tradition und unserer spirituellen Praxis sind. Sie denken aber, dass sie von Menschen geschrieben wurden, die ihre Erfahrungen mit Gott gemacht haben.

Denken von andauernden Begegnungen mit Gott geprägt war und die darum mit Liebe, Weisheit, sozusagen unter Führung des Heiligen Geistes geschrieben haben, was wir heute lesen. Darum ist nicht jedes Wort die „unbedingte Wahrheit“, und es gibt manches in der Bibel, was zeitbedingt ist und heute nicht mehr wörtlich-verbindlich genommen werden kann. Die Worte der Bibel brauchen Auslegung und Einordnung, müssen im historischen Kontext verstanden werden. Wir glauben nicht an die Bibel, wir glauben an Jesus.

Aber die Bibel ist es, in der uns berichtet wird, was Jesus gesagt und getan hat, wofür er gelebt und gelitten hat, Im Judentum gibt es das Bild, das die Rolle der Heiligen Schrift verdeutlicht: den Vergleich mit dem schwarzen und dem weißen Feuer. Das schwarze Feuer ist der Text der Bibel selbst, die Buchstaben und Worte, die Sätze und Kapitel, die geschrieben sind. Sie lesen und studieren wir, um etwas über die Geschichte zu erfahren, Informationen und Hintergründe zu lernen, durch die der Glaube so geworden ist, wie wir ihn erleben. Zwischen den Buchstaben aber leuchtet das weiße Feuer, der bleibende Sinn, die gute Botschaft, die Liebe Gottes selbst, die zu uns spricht in, neben und zwischen den Worten, die wir lesen. Was geschrieben ist, ist „geistlich“ gemeint und muss auch geistlich verstanden werden.

Wie ein Diapositiv, ein kleines gerahmtes Bild, erst dann deutlich und in all seiner großen, leuchtenden Farbigkeit gesehen und gewürdigt werden kann, wenn es mit einem Projektor an eine Leinwand geleuchtet wird, so können die Worte der Bibel erst dann leuchten, brennen, treiben und trösten, wenn sie durch Gottes Heiligen Geist im Leben des glaubenden Menschen verwirklicht werden. In den Worten der Bibel erkennen wir, was uns zu Jüngerinnen und Jüngern Jesu machen kann, die genau so in seinen Spuren laufen wie die zwölf Männer, die er damals gerufen und beauftragt hat. In den Worten der Bibel suchen wir nach dem Auferstandenen, der auch für uns das Leben ist. In den Worten der Bibel suchen wir den lebendigen Christus.

Der Monatsspruch im März lautet: „Entsetzt euch nicht! Ihr sucht Jesus von Nazareth, den Gekreuzigten. Er ist nicht hier, er ist auferstanden, wie er gesagt hat.“ Was der Engel den Frauen sagt, die am Ostermorgen an das Grab Jesu kommen, ist in diesem Satz zusammen gefasst: Fürchtet euch nicht! Die Evangelisten, aber auch die Autoren der Briefe im Neuen Testament, beschreiben Jesus vor allem als den Gesandten Gottes, der durch den Tod hindurch gegangen und auferstanden ist.

Die österliche Freude, die große Hoffnung und das Vertrauen zu Gott, das wir als Christen haben, kommt aus dieser Botschaft. Wie schon in der Weihnachtsgeschichte heißt es auch hier am offenen Grab „Fürchtet euch nicht!“ Das Wunder der Osternacht ist nicht eine Art Wiedervereinigung Jesu mit seinen Jüngern, ist keine Fortsetzung des bisherigen Lebens, so als ob die Kreuzigung nie stattgefunden hätte. Darum lautet die Osterbotschaft: Er ist nicht hier. Trotzdem ist es eine Botschaft voller Hoffnung und Leben, denn der Kern der Worte aus dem Evangelium ist: Er ist auferstanden, wie er gesagt hat!