Jakob, das Muttersöhnchen. So hatte sein Bruder Esau ihn immer genannt. Seine ganze Kindheit hatte er immer mit ihm kämpfen müssen – immer waren sie Rivalen gewesen, Gegner im Konkurrenzkampf um die Zuneigung der Eltern, um den Respekt der Geschwister, um seinen Platz im Leben der Sippe…
„Ich kann es kaum glauben, dass er wirklich mein Bruder ist, dass er sogar mein Zwilling ist.“ sagte Esau oft, „Zusammen teilten wir uns den Leib meiner Mutter, aber schon bei unserer Geburt ging der Kampf los…“
Esau verbrachte seine Zeit draußen auf den Weiden, bei den Schafen und Ziegen. Ein Hirte war er, und er hütete die Tiere, als hätte er jahrzehntelange Erfahrung. Er half den Schafen bei der Geburt ihrer Lämmer, er melkte die Ziegen und vertrieb die Wölfe mit zielsicherer Schleuder, wenn sie der Herde zu nahe kamen. Tagsüber döste er in der sengenden Sonne, nachts hielt er es in der Kälte aus. Als er älter wurde, ging er oft auf die Jagd nach wilden Tieren und war dann tagelang weg. Seine Haut wurde rot und ledrig hart, seine Haare wuchsen ihm wie das Fell der Böcke und Ziegen.
Sein Vater liebte ihn und zeigte immer wieder, wie stolz er war. „Aus dir wird mal ein richtiger Mann!“ sagte er und klopfte ihm auf seine Schulter. Er sollte in seine Fußstapfen treten und später der Anführer der Sippe werden. War er nicht der Erstgeborene, der Durchbrecher des Schoßes seiner Mutter? War es nicht sein Recht und seine Bestimmung von Anfang an?
Aber gerade das war strittig zwischen seinen Eltern: Rebekka erzählte, dass zuerst Jakobs kleines Köpfchen zu sehen war, dass er schon mit seinen hellen Augen das Licht der Welt erblickt hatte, aber dann, zwischen zwei Wehen, war er zurück gerutscht und dann kam doch Esau zuerst zur Welt. Jakob hielt seine Ferse, als wollte er auch ihn zurück ziehen, wieder hinein in die Mutter…
Ihr Jakob war zart und bedürftig, mit heller Haut und weichen Locken, oft zurückhaltend und sogar ängstlich. Ihr Jakob, ja, er war so klein, so verletzlich, nicht hart und robust wie sein Bruder. Er bleib lieber im Haus, spielte zu Füßen seiner Mutter mit Töpfen und Pfannen; später deckte er den Tisch, schnippelte Gemüse und Obst, bereitete Kräuter und Gewürze. Mit seiner Mutter ging er zum Markt, lernte feilschen und handeln. Er lachte gern, und wenn er sang, bewunderten die Frauen seine hübsche Stimme.
Und wie Isaak Esau liebte, so liebte sie ihren Jakob. „Muttersöhnchen!“ nannten sie ihn, und sie wusste, dass er manchmal darunter litt – dann tröstete sie ihn. „Ja, du bist mein Sohn. Für mich bist Du der Erste. Du wirst auch dein Recht bekommen, dafür werde ich schon sorgen.“
Dann kam jener denkwürdige Abend: Jakob kochte für die Knechte ein Gericht mit roten Linsen, frischem Knoblauch, vielen kostbaren Gewürzen… Es roch herrlich. Jakob streute gerade noch ein wenig Koreander in den Kessel, da platzte sein Bruder in die Küche hinein. „Mann, hab ich einen Hunger!“ polterte er. „Ich könnte ein halbes Schaf alleine essen!“ Er warf seinen dreckigen Umhang in die Ecke, schüttelte sein Schuhe von den Füßen und ließ sich auf die Bank fallen. Er schnupperte und fragte dann: „Eh, Kleiner, was issen das?! Die rote Pampe, die Du da machst?“ „Linsen.“ antwortete Jakob. „Gib her, Muttersöhnchen!“ kommandierte Esau. „Was gibst Du mir dafür?“ – „Was Du willst, aber gib mir endlich was, ich sterbe vor Hunger!“ – „Sag nie wieder Muttersöhnchen zu mir!“ fordert Jakob. „Aber Du bist doch eins…“ grinste Esau. „Was soll ich denn sonst sagen? Weichei? Streber? Bleichgesicht? Denk‘ Dir was anderes aus!“ – „Überlasse mir Dein Recht als Erstgeborener!“ – „Du spinnst ja! Hat jemals einer solchen Quatsch geredet? Ich war zuerst da, ich bin Erstgeborener.“ – „Ja, aber Dein Anrecht als Erstgeborener; das sollst Du mir überlassen.“ – „Okay, egal. Ich verspreche es Dir. Nun gib schon rüber von der roten Pampe…“
Wäre das ein Film im Kino, würde jetzt dramatische Musik einsetzen, um den schweren Verlust deutlich zu machen, den Esau gar nicht fühlt, während er gierig das Linsenmus in sich hinein löffelt. Jakob behielt dies Geheimnis lange für sich, aber irgendwann erzählte er seiner Mutter davon… Und die fand den Gedanken gar nicht so abwegig…
Jahre vergehen. Isaak wurde alt und schwach; er wusste, dass ihm nicht mehr viel Zeit blieb. „Schicke meine Söhne zu mir, dass ich meinen Segen auf sie lege, die Kraft, die mir noch geblieben ist.“ Und als sie vor ihm standen, sagte er zu Esau: „Mach mir doch noch einmal einen Braten vom Bergschaf, so wie früher, knusprig und saftig, fett und würzig. Das möchte ich noch einmal essen, bevor ich sterbe und Dir meinen Segen hinterlasse…“ Da ging Esau hinaus und machte sich fertig zur Jagd.
Nach einer Weile räusperte sich Jakob. Isaak schien ihn vergessen zu haben. „Ach ja, Du bist ja auch noch da, Muttersöhnchen. Geh in die Küche und schneide Obst, mach irgendwas. Vielleicht gelingt Dir ja eine annehmbare Beilage für den Braten, den Esau mir bringen wird…. Ach ja, Esau…“
Jakob ging traurig in die Küche und erzählte seiner Mutter von dem, was geschehen war. Da sagte sie: „Heul nicht herum! Das ist Deine Stunde. Tu jetzt genau, was ich Dir sage…“ Und so kam es, dass Jakob sich aus Esaus Räumen ein Ziegenfell holte, sich mit ein paar Schafskötteln einrieb und auch die Handschuhe aus grobem Leder anzog, die sein Bruder trug, wenn er in kalten Winternächten draußen bei den Hürden war. Rebekka holte derweil ein Lamm von der Herde und schlachtete es. Sie kannte die Rezepte, nach denen Esau kochte, und sie wusste auch, mit welchem Gewürz man den Wildgeschmack simulieren konnte, den Isaak so liebte.
Nach ein, zwei Stunden trat Jakob so verkleidet und getarnt in das Krankenzimmer seines Vaters, präsentierte den Braten, den seine Mutter gemacht hatte, und setzte sich zu Isaak auf das Bett. „Bist Du’s, Esau?“ fragte der alte Mann, und betastete Fellmantel, Handschuhe und das vor Aufregung glühende Gesicht seines Sohnes. „Ja, der Geruch stimmt, und das Fell, das heiße, verschwitzt Gesicht… Du warst immer unseren Tieren nah, fast so, als ob Du zu ihnen gehörtest. Lass mich essen!“ befahl er, und Jakob reichte ihm die Keulen und das Filet von dem Lamm, das seine Mutter gebraten hatte. „Hm, genau wie früher. Weißt Du noch, wie wir gemeinsam auf der Jagd waren, wie wir zusammen in den Bergen ritten und in der Nacht die Sterne betrachtet haben? Komm her, mein Sohn, ich will Dich segnen, und die Würde des Erstgeborenen soll dir gehören.“
Und so segnete der alte, halb blinde Isaak seinen Sohn Jakob und dachte, es sei Esau. Er segnete ihn mit dem Segen des Erstgeborenen, stellte ihn vor alle seine Brüder, und er legte den Namen des Herrn auf ihn.
Als ein paar Stunden später Esau kam, mit seinem Braten, mit dem herrlich gewürzten Bergschaf, das er erbeutet und zubereitet hatte, war der Segen vergeben. Und Esau empfing unter Tränen den Segen für den zweiten Sohn, den Nachgeborenen. Immer noch war der Segen voller Liebe und Kraft, aber es war nicht der herrliche, mächtige, königliche Segen, den der Erstgeborene eines alten Patriarchen erwarten konnte… Es war dieser Segen, den Jakob ihm gestohlen hatte…
„Muttersöhnchen!!!“ rief Esau, als er aus dem prächtigen Zelt seines Vaters trat, betrogen und verraten, geprellt um das Recht des Erstgeborenen, und zum ersten Mal klang dieses Wort hasserfüllt und feindselig. Es dauerte nicht lange, bis die Familie zerbrach und bis der zaghafte und konfliktscheue Jakob vor seinem Bruder floh…
Jahre vergingen. Jakob fand Zuflucht bei sein Vetter Laban, weit entfernt im Lande Midian. Dort arbeitete er sehr fleißig. Nicht länger war er nur in der Küche tätig, er hütete nun die Schafe und Ziegen seines Vetters, und er hatte außergewöhnlichen Erfolg darin, robuste und fruchtbare Tiere zu züchten. Nicht nur Laban wurde davon reich, sondern auch Jakob, der inzwischen sein Schwiegersohn war. Zuerst heiratete er Lea, und danach auch Rahel, und er hatte noch zwei Nebenfrauen. Nach vierzehn Jahren konnte er auf elf Söhne stolz sein. Jakob war ein Mann geworden, ein Patriarch, so, wie Isaak, sein Vater gewesen war. Der Segen, den er auf Jakob gelegt hatte, war erfüllt, hatte sich verwirklicht, obwohl es ein geraubte Segen war…
Das nagte immer wieder an Jakobs Gewissen. Was wohl aus seinem Bruder geworden war? Und ob er immer noch unversöhnlich und aufgebracht war? Jakob hörte, dass auch Esau Erfolg hatte und reich geblieben war; er hatte mit seinem Erbe außergewöhnlich gut gewirtschaftet. Aber all die Jahre war kein einziges Wort zwischen den Brüdern hin und her gegangen, kein Brief, kein Bote, undenkbar war ein Besuch…
Nach vierzehn Jahren nun sollte Jakob mit allen Angehörigen und allem, was er sich erworben hatte, zurück kehren in sein Heimat, zu den Weiden und Wiesen, den Bergen und Flußtälern, wo er seine Kindheit und Jugend verbracht hatte. Zu den Zelten seiner nahen Verwandten. Zu dem Haus seines Bruders.
Nie hatte Jakob solche Angst verspürt. Am Abend hatte er seine Frauen, die Diener mit den Herden und alles was er besaß über den Fluss Jabbok geschickt. Dort drüben am anderen Ufer begann das Land, das seinem Bruder gehörte. Nur er allein saß noch auf dieser Seite, blickte über das Wasser in die dunkler werdende Nacht. Zweifel hatte ihn überfallen. War es wirklich richtig, seinen Bruder aufzusuchen? Wäre es nicht klüger, ihm aus dem Weg zu gehen, weiter zu fliehen, wie er es all die Jahre getan hatte?
Täuschend friedlich glitzerten die Sterne über ihm… Da fiel ohne Vorwarnung etwas über ihn her. Jakob stöhnte auf, sein Puls raste. Etwas würgte ihn, nahm ihm die Luft, ihm wurde schwarz vor Augen. „Gib her von dem Roten!“ hörte er seinen Bruder schreien. „Ich war zuerst da! Mir gehört das Recht des Erstgeborenen!“ Und immer wieder, voller Wut und Zorn, das verhasste Wort „Muttersöhnchen!“
Jakob schlug um sich, wie rasend. „Ach, Du bist ja auch noch da…“ hörte er die Stimme seines Vaters. „Geh in die Küche, vielleicht bringst Du ja wenigstens eine Beilage zustande, eine Ergänzung zu dem Braten, den mir mein Sohn bringen wird.“
Waren Stunden vergangen oder nur Minuten? Jakob konnte es nicht sagen. Sein Kopf schmerzte, sein Rücken war wund. Seine Hüfte brannte wie Feuer. War er gestürzt, oder hatte jemand darauf geschlagen? Jakob kämpfte gegen seine Angst, gegen die Vergangenheit, gegen seinen Bruder und gegen seinen Vater. Er kämpfte gegen sein schlechtes Gewissen, gegen seine Zweifel an sich selbst. War sein Erfolg nur geraubt, sein Segen nur gestohlen? War es nicht Gott selbst, der ihn nun richten und verurteilen würde wegen des Betrugs an seinem Bruder, an seinem eigenen Fleisch und Blut?
War es nicht Gott, der so sparsam und geizig mit seinem Segen war, dass er nur für einen Mann ausreichte, für seinen Bruder oder für ihn? Konnte, ja, musste Gott nicht beide Brüder segnen? Er war doch größer als Isaak, der nur Esau liebte, größer auch als seine Mutter, die ihn, Jakob, immer vorgezogen hatte. War Gott nicht gerechter als Menschen, die immer nur auf einer Seite stehen können, konnte er nicht beide Brüder lieben?
Ich lasse dich nicht los, bis du mich gesegnet hast! Ich lasse dich nicht los, bis du Gerechtigkeit geschaffen hast. Ich lasse dich nicht los, bis du mir deine Liebe zeigst. Mir, und meinem Bruder!
Jakob knirschte mit den Zähnen, und mit einer letzten Kraftanstrengung warf er sich hinein in seine Angst, in seine Verzweiflung, in seine Not. Niemand mehr sollte ihn Muttersöhnchen nennen, niemand mehr sich an seinen Betrug erinnern. Nichts sollte ihn mehr in der Vergangenheit festhalten, nun endlich sollte er frei sein.
Am Horizont strahlte schon das Morgenrot, als er endlich wieder zu Atem kam. Israel humpelte weg von dem Schauplatz seines nächtlichen Kampfes. Ein neuer Name war ihm gegeben, eine neue Hoffnung, ein eigener Segen. Nicht gestohlen, sondern erkämpft. Mit Gott hat er gekämpft, mit den Menschen gerungen, zuletzt auch die Angst vor seinem Bruder überwunden. Israel, der Kämpfer Gottes, das wird sein neuer Name sein. In ihm würde sich die Verheißung Gottes verwirklichen, in ihm würde sein Segen wirken, größer als alles, das er sich vorstellen konnte. Und er würde nicht nur reichen für sich und seinen Bruder. Er würde reichen für seine Sippe, für das ganze Volk. In diesem Namen sollen gesegnet sein alle Menschen auf Erden.